Focus 06.12.1993

Jäger und Gejagte

PRIVATE KRANKENVERSICHERUNG
Beiträge explodieren: Verbraucher zwingen Anbieter, soziale Verantwortung zu übernehmen. Von FOCUS-Redakteur Matthias Kowalski
Die Warnung kommt von höchster Stelle. Wann immer Gesundheitsminister Horst Seehofer gefragt wird, ob er den Eintritt in eine private Krankenversicherung (PKV) empfehlen könne, winkt er ab: „Die haben die Beiträge im Alter nicht im Griff, und ihre Tarife sind für Versicherte undurchsichtig kalkuliert.“

Das wird sich ändern. Gesetzesvorstöße aus Brüssel und Bonn machen der Branche Beine. So richtig kalte Füße bekommen Manager und Vertreter, seit sie tausendfach mit der Aladon/ FOCUS-Checkliste zur privaten Krankenversicherung (Heft 9/93) konfrontiert werden. Die Anbieter sollen sich zu einer soliden Geschäftspolitik und ihrer sozialen Verantwortung bekennen. Ziel: die Spreu vom Weizen zu trennen.

Anerkennung. „Der FOCUS-Check hat ein neues Denken angestoßen“, erkennt Hans Georg Timmer, Vorstandsvorsitzender des Branchenprimus DKV, an. Klaus Werter, Direktor der Victoria-Versicherung, glaubt, daß der Check Verbraucher und Vermittler sensibler gegenüber der Geschäfts- politik der Unternehmen gemacht hat. „Wenn wir damit vom überzogenen Preis-Leistungs-Denken wegkommen, wäre das bewundernswert.“

Das ist dringend nötig. Seit Jahren haben plumpe Preisvergleiche die Privatpatienten von einem Billigtarif zum nächsten getrieben, nach dem Motto: „Wo gibt es den meisten Luxus für das wenigste Geld?“ Folge: Die Kostenbomben zündeten, die PKV-Beiträge explodierten seit 1987 immer heftiger. Bis heute sind jährliche Beitragssprünge vor allem für Zähne und stationäre Behandlung bis zu 70 Prozent keine Ausnahme. Ratlosigkeit macht sich breit. Politiker drohen, Rufe nach Verbot der PKV werden laut.

Angelockt, abgezockt? Aus der Sackgasse kommt die 22 Milliarden Mark schwere Branche nur, wenn sie den Ruf der permanenten Übervorteilung ihrer Kunden abschütteln kann. Schließlich hat die Wahl eines Unternehmens, das Krankheit privat absichert, meist lebenslange Konsequenzen: Mit zunehmendem Alter wird ein Wechsel praktisch unmöglich, der Wettbewerb ist ausgeschaltet. Eine derart heikle Sozialversicherung gibt es nur noch in den USA und den Niederlanden.

„Das wichtigste Kriterium bei der Wahl eines privaten Krankenversicherers darf nicht mehr der Preis sein, sondern die seriöse Geschäftspolitik“, sagt Wolfgang Scholl, Versicherungsspezialist der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. „Man bindet sich in der Regel gut 40 Jahre an ein Unternehmen.“

Die Kernfrage: Setzt ein Unternehmen auf die schnelle Mark und verschweigt wichtige Informationen, oder bemüht es sich um Transparenz und Pflege der Bestandskunden?

„Die Versicherten sollen endlich wissen, woran sie sind“, fordert der Wiesbadener PKV-Fachmann Peter Zinke, der die „revolutionäre Frage- liste“ (Colonia-Versicherung) nach jahrelangen Analysen mit FOCUS ausgearbeitet hat. Sein Fazit aus den Antworten der 20 größten Anbieter: „Die Versicherungen zeigen sich meist kopflos. Jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen.“

1 Positiv: Die Colonia machte ihre Beitragsrechnungen transparenter und weist jetzt etwa die angesparten Alterungsrückstellungen aus. Auch die Gothaer will nachziehen. Nur so kann man nachprüfen ob – wie vom Gesetz gefordert – 4,5 Prozent zugeschrieben werden. Mehr ist aber dringend nötig, um Beitragssprünge im Alter durch Rückstellungen abmildern zu können.

Einen neuen Kompakttarif hat die Universa zusammen mit Zinke als Antwort auf den Check kreiert. Das Besondere: Jeder kann ohne Risikoprüfung, Wartezeiten oder Verlust von Alterungsrückstellungen umsteigen. Auch die Colonia bastelt an einem neuen Angebot, daß die Anforderungen der Checkliste voll erfüllen soll.

1 Negativ: Große Namen gaben sich die Blöße: Die Vereinte hatte drei verschiedene Erklärungen zu Alterungsrückstellungen. Geldschneiderei: Die Hallesche Nationale lehnte die Mitversicherung eines Neugeborenen zu einem günstigeren Tarif als dem der Mutter ab. Auffällig: Hanse-Merkur, Landeskrankenhilfe, Iduna Nova und Deutscher Ring blieben jede Antwort schuldig.

Warnung 1. Zusätzlich hat der Wiesbadener noch die Beitragsschübe verdächtiger Unternehmen unter die Lupe genommen. Massive Attacken reitet er gegen „Harakiri-Unternehmen“: Sie bringen sich langfristig um ihr Neugeschäft, weil sie in ihrem Bestand alte Risiken als Bömbchen schlummern haben.

Das sind Altversicherte, die oft mehr Leistungen in Anspruch nehmen, als sie Beitrag zahlen, deshalb steigen Tarife mit Altversicherten stärker. Bisher konnten sich die Unternehmen noch aus der Misere stehlen, indem sie Tarife mit Altversicherten gar nicht im Neugeschäft anboten, sondern nur billigere Neukreationen, die aber für Altversicherte geschlossen waren.

Nach EG-Wunsch sollen ab Juli ´94 die „schlechten Risiken“ aus ihren überteuren geschlossenen Tarifen in billigere Neutarife umsteigen können.

Bumerang-Effekt: Die einmal an- gelockten und schlampig geprüften „schlechten Risiken“ bringen auch jeden billigen Neutarif zur Explosion. Die teuren Tarife werden unverkäuflich. Folge: Versicherte solcher „Harakiri-Anbieter“ müssen mit explosionsartigen Beitragssprüngen rechnen.

Zinke: „Einigen Unternehmen war das Geschäftswachstum oft wichtiger als angemessene Provisionszahlung, risikogerechte Bewertung von Neukunden oder eine verantwortungsbewußte Leistungspolitik gegenüber den Versicherten.“

Die Vorwürfe zielen auf Barmenia, Central, Continentale, DKV, Hallesche Nationale, Inter, Signal und Vereinte. „Eindeutig: An den riesigen Beitragssprüngen kann man eine verheerende Geschäftspolitik ablesen.“

Die Gescholtenen kontern. Für DKV-Chef Timmer wird das Risiko, das von Altversicherten ausgeht, weit überschätzt. „Ich rechne auch nicht mit einer großen Wanderungsbewegung in neue Tarife.“ Und Vilmar Klima-schewski, Vorstand der Halleschen Nationalen, beschwört alle Analysten, „die Erfolge der jüngeren Geschäftspolitik“ stärker zu beachten. Zinke unbeirrt: „Wann begreift man in den Chefetagen, daß einmal gemachte Fehler wie Pech an den Unternehmen haften?“

Warnung 2. Der Umkehrschluß ist trügerisch: Versicherer sind nicht deshalb gut, weil sie jung sind und wenig Altversicherte haben. Seriöse Geschäftspolitik kann hier keine Tradition haben, deshalb größte Skepsis.

Mit der Geschäftspolitik als Kriterium hat auch Berater Scholl seine Entscheidung getroffen. Weil die Unternehmen parallel mehrere Tarifwerke im Neugeschäft anbieten oder Alttarife schon geschlossen haben, würde er sich nicht mehr bei Barmenia, Berlin-Kölnischer, Central, DKV, Deutschem Ring, Hallescher Nationalen, Inter, Signal und der Vereinten versichern.

Sprachlose Politik: Der Finanzminister ist allenfalls „besorgt“, Seehofer hat der Branche wenigstens den Standardtarif beschert, der wenig bringt: Alle müssen diesen Billigtarif auf minimalem Kassenniveau Kunden ab 65 anbieten – sofern sie schon zehn Jahre versichert waren. Bis dahin ist man bei schlechten Unternehmen freilich schon ein Vermögen losgeworden.

Der Shooting-Star der PKV, Peter Zinke, hält es für müßig, auf Anstöße aus der Politik zu warten, die Unternehmen zu mehr sozialer Verantwortung zwingen. „Das schafft allein die Konkurrenz zwischen guten und schlechten PKV-Anbietern. Aber wer nicht mit unangenehmen Fragen nachbohrt, erfährt auch nichts.“

KAUM IDEEN GEGEN BEITRAGSEXPLOSIONEN
Träge Geschäftspolitik: 20 Krankenversicherer wurden nach ihren Ideen gegen Beitragsexplosionen gefragt, die wenigsten hatten eigene. Der vom Gesetz ab Juli ´94 erzwungene Standardtarif für Rentner kann keine ernsthafte Lösung darstellen: In diesen Tarif – nach Preis und Leistung auf Kassenniveau – darf man erst ab 65. Wer einmal hineinrutscht, kann kaum zurückwechseln. Ein Armutszeugnis sind Vorschläge, Prämienerhöhungen durch Renten- oder Lebensversicherungen aufzufangen: Diese Unternehmen wälzen jede soziale Verantwortung auf die Patienten ab.

DKV Beitragslimitierung für Versicherte über 65, sofern 10 Jahre versichert (FOCUS: Wohl nur Standardtarif gemeint)

Vereinte „Limitierungsmodelle“, Tarif mit garantierter Beitragsentlastung im Alter

Barmenia Private Rentenversicherung abschließen

Hallesche Normaltarife in günstigere umwandeln (ab 65),

Nationale private Rentenversicherung abschließen

Inter Private Rentenversicherung abschließen

Münchner Beitragsmilderung durch Wechsel innerhalb der Verein ambulanten Selbstbehalte

Universa Freie Tarifwahl im ambulanten Bereich ohne Risikoprüfung unter Mitnahme aller Rückstellungen. Neuer günstiger Kompakttarif (spätestens 7/94) für Ältere und Familien

Victoria Gesundheits- und Treuebonus. Tarife abspeckbar

Süddeutsche „Beitragssenkungsplan“ (FOCUS: Wohl Renten- und Lebensversicherungen gemeint), Rückstellungen werden bis zum Beitrag einer 16jährigen angerechnet

Gothaer Rückstellungen werden auch bei Wechselin schwächere Tarife angerechnet

Alte Oldenburger
Mitnahme aller Rückstellungen bei Wechsel in andere Selbstbehalte und Tarife

KRANKENTARIFE: WO BEITRAGSEXPLOSIONEN DROHEN

Quelle: Aladon Umfrage, 11/93 nicht geantwortet haben Continentale, Central, Deutscher Ring, Iduna Nova, Hanse Merkur, Landeskrankenhilfe
Quelle: Aladon Peter Zinke, *Monatsbeitrag Vollkostentarif Frauen, 600 Mark Selbstbehalt, 80% Zahnersatz, 2-Bett-Zimmer

FOCUS Nr. 49 (1993)

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Quelle: http://www.focus.de/finanzen/news/private-krankenversicherung-jaeger-und-gejagte_aid_142515.html

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